Elternabend 23.1.97
Liebe Schülerinnen und Schüler der Klasse 11d, liebe Eltern.
Es ist Zeit für einen ersten zusammenfassenden Bericht, den wir auch am kommenden Elternabend als Grundlage für den weiteren Meinungsaustausch verwenden können.
Das Projekt läuft so gut, daß selbst Optimisten überrascht sind. Mein Dank gilt in erster Linie der Klasse, die sich tapfer gehalten hat, was wohl nur durch das bereits vorhandene intakte soziale Gefüge möglich war. Ich bedanke mich auch bei den Eltern, die den Mut hatten, ihre Kinder an einem solchen Projekt teilnehmen zu lassen, das sicher nicht ohne Risiken ist. Gerade unsere Schule wurde durch den Besuch der Ministerin ins Rampenlicht gerückt, und so werde ich in meinen Vorträgen immer wieder ungläubig gefragt, ob sich so ein Projekt denn überhaupt realisieren läßt. Spätestens nach diesem erfolgreichen ersten Halbjahr kann ich mit gutem Gewissen antworten: Ja, das ist machbar! Wir haben die ersten Schritte ins technisierte Neuland gewagt und wir haben die ersten Probleme in einer guten Atmosphäre des Vertrauens gelöst." Schließlich hat es sich auch bewährt, daß der Unterricht schon im ersten Jahr von einem zweiten Kollegen begleitet wird, und ich möchte bei dieser Gelegenheit Herrn Schlipphak für seine tatkräftige Hilfe danken.
Lassen Sie mich nun in einem kurzen Rückblick berichten, was wir gemacht und gelernt haben, und anschließend das Vorgehen im kommenden Halbjahr (und auch darüber hinaus) skizzieren.
Für die Beurteilung des gesamten Projekts ist es wichtig zu wissen, daß die Durchführenden größtmögliche Gestaltungsfreiheit haben. Die einzige Einschränkung für den Unterricht in Klasse 11 liegt darin, daß eventuelle Aussteiger auch in einem Mathematik-Kurs in Klasse 12 ohne Notebook den Anschluß finden. Vor diesem Hintergrund ist zu beachten, daß die moderne Mathematik zumindest auf zwei Arten unterrichtet werden kann:
- Das CAS wird in den bestehenden Lehrplan integriert und in erster Linie zur Demonstration (Visualisierung) und als Rechenknecht eingesetzt. Damit kann man eine Breitenwirkung erzielen und die Inhalte des vorhandenen Lehrplans besser transportieren.
- Die Möglichkeiten eines CAS werden voll genutzt. In diesem Fall muß zumindest in Teilen ein neuer Lehrplan geschrieben werden, der sich an der neuen Qualität der experimentellen Mathematik orientiert. Diese echte Innovation wird in den nächsten Jahren eine beträchtliche Tiefenwirkung zeigen und muß deshalb in einem Pilotprojekt angestrebt werden.
Nach meinen Erfahrungen mit Computer-Algebra-Systemen und auch mit den Möglichkeiten der Telekommunikation aus den letzten Jahren bin ich davon überzeugt, daß die neuen Technologien schon in wenigen Jahren den naturwissenschaftlichen Unterricht grundlegend verändern werden. Ich setze deshalb nicht nur das CAS konsequent ein, sondern auch alles was sich im Unterricht von morgen mit einem Computer sinnvoll nutzen läßt. An unserer Schule läuft das Projekt also mit der Zielsetzung der Tiefenwirkung, denn nur mit diesem experimentellen Ansatz können wir herausfinden, was morgen möglich sein wird, aber auch, was wir meiden müssen. Das bedeutet im Einzelnen:
- Die Unterrichtsform der Zukunft ist das selbständige Lernen und das Lernen in der Gruppe. Der Lehrer wird zum Moderator, der Schüler ist - wie auch später im Berufsleben - mehr auf sich selbst gestellt. Die Fähigkeiten der Informationsbeschaffung und des Problemlösens treten stark in den Vordergrund. Das bedeutet aber keinen radikalen Schnitt, vielmehr versuchen wir einen kontinuierlichen Übergang.
- Der Unterricht mit dem Medium Computer bedeutet auch im virtuellen Klassenzimmer keine soziale Vereinsamung. Vielmehr fördert das gemeinsame Ziel und das allen zur Verfügung stehende neue Werkzeug soziale Kontakte. Ich habe noch selten in einer Klasse so viel Kommunikation beobachtet, wie in meiner 11d.
- Der Lehrer von morgen wird nicht nur Moderator sein. Er wird auch einiges mehr an organisatorischer Arbeit zu bewältigen haben. Der Segen der Technik verlangt seinen Preis -und wenn es nur die Ausbildung und Fortbildung unserer Lehrer ist, die sich nicht nur mit den Geräten und den Programmen auskennen müssen. Sie werden in der Zukunft auch vermehrt mit rein logistischen Aufgaben konfrontiert sein (Stichwort Datenbank).
- Die Leistungskontrolle oder Erfolgskontrolle kann nicht mehr wie bisher in Klausur durchgeführt werden. In unseren offenen Kommunikationssystemen gibt es die Abgeschlossenheit, in der jeder nur noch seinen eigenen Kopf benützen darf, nicht mehr oder nur noch selten. Journalisten, die von unserem Projekt berichten Der Spickzettel ist erlaubt!" können nicht besser berichten, weil sie aus ihrer eigenen Schulzeit nur die Klausur kennen, auf die man zwei Tage vorher gebüffelt hat, um reproduzieren zu können, was der Lehrer ins Heft diktiert hatte. Solche Dressurakte sind aber im Zeitalter der Kommunikation nicht mehr gefragt.
- Die alte Mathematik-Hausaufgabe im Stil Berechne... 1.a) - z), in der Rechenfertigkeiten trainiert wurden, gibt es nicht mehr, weil sich nun die Aufgaben 1.a) - z) mit einem einzigen CAS-Befehl lösen lassen - auf Knopfdruck. (Die Rechenfertigkeit ist aber nach wie vor gefragt, man trainiert sie nur leichter mit einem CAS, das im übrigen auch seinerseits kontrolliert sein will.) Die Hausaufgabe in unserem Projekt hat deshalb ihren Schwerpunkt darin, daß der Lernende interaktiv und kontinuierlich mit dem System arbeitet. Der Lehrer stellt seine Fragen im Arbeitsblatt, der Schüler setzt sich mit der Fragestellung auseinander und berichtet im Unterricht (besser: in der Schule) über seine Erfolge oder Mißerfolge. Das Lernen und Üben zu Hause bestimmt in weit größerem Maß die Erfolgschancen als im herkömmlichen Unterricht, in dem man z.B. auch noch im Lehrervortrag etwas kapieren konnte, wenn man seine Hausaufgabe nicht gemacht hatte.
- Ein altes Computerproblem: Es gibt Bücher zum Thema Frau am Computer. Es werden Tagungen zu diesem Thema abgehalten und man hat Gehirnforscher bemüht, die sich mit dem Vergleich der Gehirnhälften von Frauen und Männern beschäftigen. Man hat anscheinend herausgefunden, daß Mädchen den Umgang mit dem Computer leichter lernen, wenn keine Jungen in der Nähe sind, und propagiert deshalb zur Zeit den geschlechtsspezifischen Computer-Unterricht. In unserer 11d sind fast ebenso viele Mädchen wie Jungen und unter den Jungen sind natürlich die Computer-Freaks zu finden. Ich bin mir aber sicher, daß sich unsere Mädchen gegen die Vorurteile einer (immer noch recht computerfeindlichen) Gesellschaft durchsetzen werden.
- Arbeitsform (ein Vorgriff auf Telelearning): Wir werden das selbständige Lernen weiter kultivieren. Das bedeutet konkret:
- Vergabe von Arbeitsaufträgen, die in einem befristeten Zeitraum erledigt werden.
- Kontinuierliches Arbeiten mit unserem elektronischen Mathematikbuch und Abgabe der Hausaufgaben im lokalen Netzwerk unserer Schule.
- Ein Punktesystem zur Bewertung der Produkte, über das wir uns noch verständigen werden.
- Inhalte: Das CAS setzt uns in die Lage, schon jetzt Themen zu behandeln, die im herkömmlichen Lehrplan erst in Klasse 12 auftauchen, oder an Schulen bisher nicht behandelt werden konnten. Themen wie Integration, Reihenentwicklung oder Differential-gleichungen waren bis gestern ein Tabu im Mathematikunterricht der Klasse 11 oder überhaupt in der Schulmathematik. Weil wir uns mit einem CAS um solche Tabus aber nicht mehr kümmern müssen, wird eine gewisse Diskrepanz zum Unterricht in den Parallelklassen entstehen: Einerseits werden unsere Schüler nicht die Rechenfertigkeit besitzen, die man von einem Schüler erwartet, der die herkömmliche Dressur absolviert. Andererseits werden unsere Schüler schon in Klasse 11 Zusammenhänge kennenlernen, die dem Normalschüler erst in Klasse 12 zugemutet werden.
- Technik: Ich lerne gerne von meinen Schülern. In unserer Klasse 11d hat sich inzwischen ein Team herauskristallisiert, das folgende Aufgaben übernehmen wird:
- Annahme und Verwaltung der Schülerbeiträge, die wir in Zukunft auf unserer Web-Seite der mathematisch und didaktisch interessierten Welt zur Verfügung stellen werden.
- Betreuung der Kommunikation unter den Pilotschulen (es haben sich schon eine ganze Reihe von Interessenten der anderen Schulen gemeldet). Ich selbst werde versuchen, für die erforderliche Koordination des landesweiten Vorhabens zu sorgen, in dem zunächst die vier Pilotschulen und dann die 40 CAS-Schulen unter ein Dach gebracht werden sollen.
Ich bedanke mich bei allen Beteiligten für den Mut zur Innovation und das uns entgegengebrachte Vertrauen und wünsche uns weiterhin eine fruchtbare Zusammenarbeit.
M. Komma