Aristoteles

Aus der ältesten Metaphysik

(last updated 1997)

(stolen by M.Komma and S.Simon)

 

Das Streben nach Wissen ist eine natürliche Veranlagung aller Menschen. Das beweist schon unsere Vorliebe für die sinnlichen Wahrnehmungen; denn wir lieben diese, abgesehen von ihrem praktischen Nutzen, um ihrer selbst willen und am meisten von ihnen die Gesichtswahrnehmung. Denn nicht nur, um etwas zu tun, sondern auch ohne jede praktische Absicht ziehen wir das Sehen doch wohl allem andern vor. Die Ursache davon liegt darin, daß dieser Sinn uns am meisten zur Erkenntnis verhilft und uns viele Unterschiede (an den Dingen) klarmacht. Die sinnliche Wahrnehmung nun ist den lebenden Wesen von Natur eigen. Auf Grund derselben bildet sich bei manchen von ihnen ein Gedächtnis, bei andern ist das nicht der Fall. Deshalb sind die ersteren verständiger und gelehriger als diejenigen, die keine Erinnerungskraft besitzen. Verständig, aber nicht gelehrig sind solche, die keinen Schall vernehmen können, wie die Bienen, und wenn es etwa sonst noch eine derartige Tiergattung gibt; gelehrig aber sind nur solche, die außer dem Gedächtnis auch noch ein Gehörsorgan besitzen. Die Tiere nun also leben in Vorstellungen und Erinnerungen und erwerben nur geringe Erfahrung; das Menschengeschlecht aber erhält sich durch Kunstfertigkeit und Berechnung. Denn auf Grund der Erinnerung bildet sich bei den Menschen die Erfahrung; denn die vielfache Erinnerung an dieselbe Sache erzeugt die Kraft einer einheitlichen Erfahrung. Aus der Erfahrung aber erwächst dem Menschen Wissenschaft und Kunstfertigkeit. Die Erfahrung nämlich erzeugt die Kunstfertigkeit, wie Polos ganz richtig sagt, der Mangel an Erfahrung aber liefert das Leben dem Zufall aus. Kunstfertigkeit entsteht aber, wenn aus vielen durch Erfahrung gewonnenen Beobachtungen eine allgemeine Ansicht über gleichartige Erscheinungen sich bildet. Denn die Ansicht, daß dem Kallias und dem Sokrates und so noch vielen andern einzelnen in einer bestimmten Krankheit ein bestimmtes Mittel geholfen hat, ist Sache der Erfahrung; dagegen die Ansicht, daß ein Mittel allen denjenigen Kranken, die unter einer bestimmten Gattung befaßt werden und an einer bestimmten Krankheit leiden, z.B. an Verschleimung oder an einem Gallenübel oder an hitzigem Fieber, helfe, das ist Sache der Kunstfertigkeit.

Im praktischen Leben scheint sich nun die Kunstfertigkeit von der Erfahrung in keiner Weise zu unterscheiden; ja wir erleben es sogar, daß der Mann der Erfahrung das Richtige zuweilen eher trifft als der Theoretiker, wenn dieser keine Erfahrung hat. Der Grund davon liegt darin, daß die Erfahrung die Kenntnis des einzelnen ist, die Kunstfertigkeit sich aber auf das Allgemeine bezieht, während allesHandeln und Wirken auf das einzelne gerichtet ist. Denn nicht den Menschen als solchen macht der Arzt gesund, außer insofern als seine Patienten unter diesen Begriff fallen, sondern den Kallias oder den Sokrates oder wie sie sonst heißen mögen, denen ihrem Wesen nach die Bezeichnung Mensch zukommt. Wenn nun jemand zwar die Theorie kennt, aber keine Erfahrung besitzt und die Umstände des einzelnen Falles nicht kennt, so wird er bei der Behandlung oft fehlgreifen; denn zur Behandlung steht der einzelne Fall.

Nichtsdestoweniger sind wir der Meinung, daß Wissen und Verstehen der Kunstfertigkeit in höherem Grade eigen sei als der Erfahrung, und wir halten den Mann der Kunstfertigkeit für sachverständiger als den der Erfahrung in der Überzeugung, daß die Sachverständigung immer in höherem Grade mit dem Wissen verbunden sei; und zwar deshalb, weil der eine die Ursache kennt, der andere nicht.

Denn der Mann der Erfahrung kennt zwar das Daß, aber nicht das Warum; der andere aber kennt das Warum und die Ursache. Deswegen stellen wir auch in jedem Falle den leitenden Künstler höher und setzen bei ihm ein größeres Wissen und größere Sachverständigkeit voraus als bei den Handwerkern, weil er die Ursachen kennt, aus denen die Sache so gemacht wird: er ist also nicht deshalb sachverständiger, weil er ein Mann der Praxis ist, sondern weil er im Besitze der Theorie ist und die Ursachen kennt. Im allgemeinen kennzeichnet den Wissenden die Fähigkeit, sein Wissen zu lehren, und darum schreiben wir der Kunstfertigkeit in höherem Grade den Charakter der Wissenschaft zu als der Erfahrung: denn jene besitzt die Fähigkeit, diese nicht. Auch die sinnliche Wahrnehmung führt nach unserer Meinung nicht zur Sachverständigkeit: denn, so wichtig auch die durch sie gemachten einzelnen Beobachtungen sind, so geben sie uns doch in keinem Falle den Grund an, z.B. warum das Feuer heiß ist, sondern nur, daß es heiß ist.

Es ist natürlich, daß derjenige, der zuerst eine über die allgemeinen Wahrnehmungen hinausgehende Kunstfertigkeit erfand, von den Menschen bewundert wurde, und zwar nicht nur wegen der Nützlichkeit seiner Erfindung, sondern als ein Mann, der etwas versteht und sich vor den übrigen auszeichnet. Als dann aber Kunstfertigkeiten in größerer Zahl erfunden wurden, von denen die einen notwendigen Bedürfnissen, die andern höheren Lebensinteressen dienten, erkannte man natürlich den Erfindern der letzteren größere Klugheit zu als denen jener, weil ihre Wissenschaften nicht dem alltäglichen Bedarf dienten. Deshalb wurden diejenigen Wissenschaften, die nichts mit dem Genuß und den notwendigen Bedürfnissen zu tun haben, erst erfunden, als die diesen dienenden Fertigkeiten schon geläufig waren, und zwar zuerst in solchen Ländern, wo es Leute gab, die Zeit hatten. Darum kamen die mathematischen Wissenschaften zuerst in Ägypten zustande; denn dort gab es einen Priesterstand, der Zeit hatte. Deshalb versteht, wie schon früher ausgeführt wurde, wer Erfahrung besitzt, offenbar mehr als wer nur eine beliebige sinnliche Wahrnehmung macht, der Kunstverständige mehr als der Mann der bloßen Erfahrung, der leitende Künstler mehr als der Handwerker und die theoretischen Wissenschaften mehr als die technischen Fähigkeiten. Und so ist es denn klar, daß die Philosophie die Wissenschaft ist, deren Gegenstand gewisse Ursachen und Prinzipien bilden.

Da wir nun diese Wissenschaft suchen, so ist weiter zu überlegen, welcher Art die Ursachen und Prinzipien sind, deren wissenschaftliche Erkenntnis den Inhalt der Philosophie ausmacht. Dies dürfte vielleicht deutlicher werden, wenn man sich die Vorstellungen vergegenwärtigt, die wir von dem Philosophen haben. Wir nehmen also fürs erste an, der Philosoph wisse alles, soweit dies möglich ist, ohne sämtliche Einzelheiten zu kennen. Ferner halten wir denjenigen für einen Philosophen, der imstande ist, das Schwierige und für den Menschen nicht leicht Erkennbare zu erkennen (denn die bloße sinnliche Wahrnehmung ist eine allgemeine Fähigkeit, daher leicht, und hat nichts mit Philosophie zu tun). Ferner schreiben wir in jeder Wissenschaft demjenigen eine größere philosophische Fähigkeit zu, der sich als schärferen Denker und besseren Lehrer erweist. Weiter behaupten wir, daß unter den Wissenschaften diejenige philosophischer ist, die man um ihrer selbst und um der Erkenntnis an sich willen, als diejenige, die man wegen ihrer praktisch verwertbaren Ergebnisse erstrebt, und ebenso diejenige, der eine leitende Stellung zukommt im Vergleich mit einer, die nur eine dienende Rolle spielt. Denn der Philosoph soll sich nicht Vorschriften geben lassen, sondern selbst solche erteilen, und er soll sich nicht einem anderen unterordnen, sondern der weniger Einsichtige ihm.

Solcher Art und so viele sind die Vorstellungen, die wir von der Philosophie und den Philosophen haben. Von diesen ist die erste, das alles umfassende Wissen, unerläßlich für den, der die Wissenschaft vom Allgemeinen im höchsten Sinne besitzt; denn er weiß gewissermaßen alles, was darunter fällt. Ferner ist das Allgemeinste wohl auch für die Menschen am schwierigsten zu erkennen, den es liegt am weitesten ab von der sinnlichen Wahrnehmung. Die größte Schärfe des Denkens aber erfordern die Wissenschaften, die es am meisten mit den Prinzipien zu tun haben; denn schärferes Denken braucht man zu den abstrakteren Wissenschaften als zu denen, die mehr konkret sind, wie z.B. zur Arithmetik im Verhältnis zur Geometrie. Aber auch zum Lehren befähigt die Theorie von den Ursachen mehr; denn Aufgabe der Lehrer ist es, für alles einzelne die Ursachen anzugeben. Das Wissen und Verstehen um einer selbst willen findet aber im höchsten Grade bei derjenigen Wissenschaft statt, die es mit der höchsten Erkenntnis zu tun hat. Denn wer das Wissen um einer selbst willen erstrebt, wird nach der Wissenschaft streben, die dies im höchsten Sinne ist; dies ist aber diejenige, die es mit der höchsten Erkenntnis zu tun hat; Gegenstand der höchsten Erkenntnis aber sind die ersten Ursachen; denn vermöge dieser und aus diesen erkennt man das Übrige, nicht (umgekehrt) diese aus dem, was durch sie bedingt ist. Die Königin unter den Wissenschaften aber, der mehr eine leitende Stellung zukommt als den dienenden, ist diejenige, die erkennt, um welches Zweckes willen alles einzelne zu tun ist. Dieser Zweck ist in allem einzelnen das Gute, in der Natur als Gesamtheit aber das schlechthin Beste.

Nach allem, was hier aufgeführt wurde, kommt die Bezeichnung Philosophie, deren Wesen wir zu ermitteln suchten, der gleichen Wissenschaft zu; denn sie muß die Theorie der ersten Prinzipien und Ursachen sein; denn auch das Gute und die Zweckmäßigkeit gehörten zu diesen Prinzipien.

Daß sie aber (theoretisch und) nicht produktiv ist, zeigt auch ein Blick auf die ersten Anfänge der Philosophie. Denn das Sichverwundern ist es, was die Menschen am Anfang, wie auch jetzt noch, zum Philosophieren veranlaßt hat. Zuerst bezog sich dies Sichverwundern auf das Nächstliegende unter den unerklärlichen Erscheinungen, dann, als man etwas weiter fortgeschritten war, nahm man auch schwierigere Fragen in Angriff, wie die Mondphasen, die Bewegung der Sonne und der Sterne und die Entstehung des Weltalls. Wer sich aber etwas nicht erklären kann und sich verwundert, der glaubt es nicht zu verstehen: insofern ist auch der Freund der Mythen ein Philosoph; denn der Mythus besteht aus wunderbaren Vorgängen. Wenn man also zu philosophieren begann, um der Unwissenheit zu entgehen, so ist es klar, daß man das Wissen um des Wissens willen erstrebte und nicht wegen irgendwelcher praktischer Verwertung. Dies beweist auch die geschichtliche Entwicklung: denn erst als alles vorhanden war, was zur Erleichterung und Verbesserung des Lebens sich notwendig erwies, begann man als solche Erkenntnis zu suchen. Es ist also klar, daß wir sie nicht aus irgendeinem sonstigen Bedürfnis suchen; sondern, wie wir sagen, daß nur der Mensch frei ist, der um seiner selbst willen da ist und nicht um eines anderen willen, so ist auch diese Wissenschaft allein frei: denn sie allein trägt ihren Zweck in sich selbst.