Variationsrechnung und Variationsprinzipien

Dr. M. Komma

Isolde-Kurz-Gymnasium Reutlingen

Eine kommentierte Zusammenstellung von Maple-Worksheets aus

Moderne Physik mit Maple, Komma, ITP

 

Einleitung

Im Gegensatz zu den in der Schule gebräuchlichen Modellbildungssystemen werden wir nicht Differentialgleichungen verwenden, sondern Integralgleichungen: „wir suchen die Lösung nicht, wir arbeiten mit ihr". Dieser Paradigmenwechsel hat eine gute Tradition, die aus der theoretischen Mechanik kommt. Die Variationsrechnung hat dort die Newtonsche (differentielle) Mechanik abgelöst, und die Hamiltonsche Mechanik ist zur Grundlage der Quantenmechanik und der Kosmologie geworden. Nachdem nun die Computeralgebrasysteme einen ähnlich gearteten Paradigmenwechsel (denken statt rechnen) herbeiführen, ist es an der Zeit, die im Prinzip einfache Denkweise der Variationsprinzipien auch an der Schule in geeigneter, elementarisierter Form einzuführen. Wir wollen mit diesem Versuch nicht die Universitäts-Mathematik an die Schule holen, nur weil das mit Maple geht. Nein, es gibt schon eine Reihe von Beispielen, die die Variationsrechnung an der Schule zum Thema haben. Sie konnten aber bisher nicht nachhaltig behandelt werden, weil die Werkzeuge dazu fehlten. Gerade solche Themen sind aber für die Belebung oder Wiederbelebung des MU geeignet, und wo findet man bessere angewandte Mathematik als in der theoretischen Physik? Ich denke, daß es eine eminent wichtige Aufgabe für einen Mathematik- und Physiklehrer ist, diese beiden Wissenschaften an der Schule wieder zu vereinen. Der fächerverbindende Unterricht wird ad absurdum geführt, wenn der Schüler z.B. in Klasse 11 in Mathematik die Differentialrechnung erlernt und in Physik nur Weg-Zeit-Gesetze auswendig lernen darf. Er würde noch mehr ad absurdum geführt, wenn man verlangen würde: „Anwendungsaufgaben ja - aber bitte nicht aus der Physik!" Wir müssen auch in der Didaktik der Mathematik einen Paradigmenwechsel erreichen: Forschen statt lehren. Wenn man in den gängigen Lehrziel- und Methodenkatalogen blättert, ist alles, was die Didaktik zu bieten hat, fein säuberlich aufgelistet. Für jedes Problem gibt es eine Lösung und einen besten Weg dorthin, der nach kurzer Erörterung („Problematisierung") eingeübt wird. Nur eines fehlt in diesen Katalogen, nämlich das Lehrziel Forschen, also das Wechselspiel von induktivem und deduktivem Vorgehen. Aristoteles war diese Dialektik schon vertraut. Wir sollten sie uns im Zeitalter der Computeralgebrasysteme wieder ins Bewußtsein rufen und lehren. Das gelingt aber nur, wenn wir einige Verkrustungen (sie reichen von den Unterrichtsformen über die Notengebung bis in die Grundstrukturen unseres Bildungswesens) aufbrechen. Oder sollte es stimmen, daß ein guter Forscher kein guter Lehrer sein kann?

 

Variationsrechnung

Die Variationsrechnung bildet in gewisser Hinsicht das Gegenstück zur Extremwertrechnung (den „Minimax-Aufgaben").

Extremwertaufgabe: Gegeben ist eine Funktion, bestimme ihr Extremum. („Gegeben" heißt hier, daß die Funktion als Zielfunktion eindeutig durch Aufstellen algebraischer Gleichungen formuliert werden kann).

Variationsaufgabe: Gesucht ist die Funktion (für die keine algebraische Gleichung bekannt ist), die ein bestimmtes Kriterium erfüllt.

Das Kriterium wird in der Variationsrechnung meist als Integral über die gesuchte Funktion formuliert, ist also eine Funktion der gesuchten Funktion oder ein Funktional. Die „unabhängige Veränderliche" ist kein Element einer Zahlenmenge, sondern Element einer Menge von Funktionen. Findet man diese Funktion, so nimmt das Funktional ein Extremum an (daher der Name Extremalprinzip), bzw. seine Variation wird Null. Die strenge Lösung von Variationsproblemen führt meistens auf (partielle) Differentialgleichungen, z.B. die Euler-Lagrangeschen Gleichungen. Natürlich sind solche Gleichungen an der Schule (noch) etwas fehl am Platz. Es gibt aber viele Möglichkeiten, mit einem CAS anschauliche und experimentelle Variationsrechnung zu betreiben, und so - ohne die Schüler zu überfordern - den Grundgedanken sichtbar zu machen. Man kann sich dabei an den Klassikern der Variationsrechnung orientieren.

 

Themenkreise

Brachystochrone: Gesucht ist die Bahn (Funktion), auf der ein Körper im homogenen Schwerefeld in der kürzesten Zeit von einem Startpunkt zum Zielpunkt kommt. Diese Fragestellung (Huygens) gab den Anstoß zur Entwicklung der Variationsrechnung oder überhaupt zur Entwicklung der Funktionalanalysis.

Isoperimetrisches Problem: Eine geschlossene ebene Kurve gegebener Länge soll eine möglichst große Fläche einschließen. (Noch älter als die Brachystochrone).

Minimalflächen: In eine räumliche Kurve als Rand ist die kleinste Fläche einzuspannen.

Geodätische Linien: Zu zwei Punkten einer Fläche ist die kürzeste in der Fläche liegende Verbindungslinie gesucht.

Wirkungsprinzip (Hamilton): Die Bahn eines Körpers in einem gegebenen Potential verläuft so, daß die Wirkung ein Minimum (meistens) annimmt. Das Prinzip der kleinsten Wirkung wurde von Planck als die Königin der Physik bezeichnet.

Variationsprinzipien der Physik: Fermat, Gauß, Maupertuis und noch einige andere haben wie Hamilton und Lagrange wichtige Beiträge zum Umdenken in der Physik geleistet und so die Grundlage für die Quantenphysik und Kosmologie geschaffen.

Die Aufhebung der Variationsprinzipien: Die Natur arbeitet nicht mit „wirklichen Bahnen", die durch Variationsprinzipien ausgesucht werden, sondern mit virtuellen Bahnen und Interferenz. Auch diese Erkenntnis geht übrigens auf Huygens zurück.

 

Die verschiedenen Aspekte der Variationsrechnung liefern also ein reichhaltiges Angebot, wenn wir unseren Mathematikschülern zeigen wollen, wozu Mathematik gebraucht wird. Auch wenn manche Themenkreise nur aus einem einzigen Beispiel zu bestehen scheinen: Die Variationsrechnung ist in der Kombination mit einem CAS ein dankbarer Forschungs-gegenstand, an dem der Methodenwechsel und das „Beschaffen von Information" geübt werden können. Für den Leser dieser Zeilen gibt es allerdings ein Handicap. Die Arbeit mit einem CAS muß man selbst tun und erleben, sie läßt sich schlecht in vollem Umfang durch Beschreibungen mitteilen, wenn die Möglichkeit zur Interaktion fehlt. Deshalb können hier die Maple-Worksheets (Release 3) aus meinem Buch „Moderne Physik mit Maple"  geholt werden (*.ms).

 

Das Wirkungsprinzip

1.) Das Worksheet wirf1a.ms beschäftigt sich mit der Wirkungsfunktion, die als Zeitintegral über die Differenz von kinetischer und potentieller Energie (der Lagrange-Funktion) definiert ist. Wie man auf diese Größe kommt, muß im Mathematikunterricht nicht problematisiert werden, man kann es aber durchaus nach dem Arbeiten mit der Wirkungsfunktion tun. Für den Einstieg genügt es, die Wirkungsfunktion in einfachen Situationen darzustellen, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie mit ihr aus einer Menge von Bahnen (Funktionen) die richtige ausgewählt werden kann. Die einfachste Situation ist die gleichförmige Bewegung und die einfachste Abweichung von dieser Bewegung ist die stückweise gleichförmige Bewegung. Letztere ist außerdem der Schlüssel zu einer elementarisierten Behandlung von Variationsproblemen. Wie bei der stückweise gleichförmigen Bewegung kann man jede Funktion stückweise linear approximieren, wobei die Güte der Approximation nur von der Feinheit der Unterteilung (vom Maßstab) abhängt. Das liefert zwar nicht den in der Variationsrechnung gesuchten Funktionsterm, aber es liefert wesentlich mehr als nur eine zahlenmäßige Näherung, wie im folgenden deutlich werden soll.

 

2.) Nach der Untersuchung der Wirkungsfunktion und der Einführung der linearen Approximation wird im Worksheet wirf2.ms ein anderer Zugang zur Variationsrechnung vorgestellt. Es handelt sich dabei um die „schwachen Extrema", die man erhält, wenn man von einem bekannten Funktionstyp (etwa Polynom oder trigonometrische Funktion) ausgeht. Diese schwachen Extrema können dann exakt durch Aufstellen von Gleichungssystemen berechnet werden, d.h. in dieser Näherung wird die Variationsrechnung auf die „Minimax-Aufgabe" zurückgespielt. Auch hier erweist sich ein CAS als sehr vorteilhaft, wenn nicht gar bahnbrechend. Es können Gleichungssysteme mühelos aufgestellt und behandelt werden, der Übergang in den Parameterraum kann anschaulich durchgeführt werden, und Funktionstypen können leicht ausgewechselt werden. Gerade das „Spiel mit Funktionstypen" ist kennzeichnend für einen forschenden Zugang zu Problemen, und deshalb steht diese natürliche Mischung von induktivem und deduktivem Vorgehen in den Worksheets wirf3.ms und fourw.ms im Vordergrund. Dort wird das lineare Potential (Schwerefeld) und das quadratische Potential (Feder) untersucht, und die zugehörigen Lösungen (Polynome oder trigonometrische Funktionen) werden vertauscht. So führt experimentelle Mathematik zu einer wichtigen Fragestellung der Physik, nämlich der Untersuchung des Unterschiedes von periodischen und aperiodischen Vorgängen. Als Seitenthema bietet sich hier natürlich die Reihenentwicklung an.

 

3.) Die Vorgabe einer Funktionsklasse ist aber ein Notbehelf, sofern man nicht eindeutige Hinweise hat, daß die gesuchte Funktion in dieser Klasse enthalten ist. Im Worksheet wirf4.ms wird deshalb der zentrale Gedanke der linearen Approximation (der für den Nicht-Physiker ebenfalls wie ein Notbehelf aussieht, in Wirklichkeit aber zu den Feynmanschen Pfadintegralen führt, so wie er schon zur Infinitesimalrechnung geführt hat) wieder aufgegriffen. Auch hier kann wieder der Potentialtyp frei gewählt werden. Das Wirkungsprinzip (und nicht die Lösung einer Bewegungsgleichung) sorgt dafür, daß die beste lineare Approximation zustande kommt, und das CAS löst die Gleichungssysteme (auch von der Dimension 100) exakt. Darüber hinaus kann leicht einsichtig gemacht werden, wie das Auswahlkriterium „Wirkungsprinzip" ausgetauscht werden kann, etwa durch das Prinzip des „kleinsten Zwangs", das von Gauß aufgestellt wurde und uns heute als die „kleinste Summe der Fehlerquadrate" bekannt ist. Hier kann man im wahrsten Sinne des Wortes Bahnen (Funktionen) aus Potentialen herausmodellieren.

 

4.) Das Worksheet montew.ms schließlich hat seinen Namen von der Kombination Monte-Carlo und Wirkung. Hier wird die Verallgemeinerungsfähigkeit der linearen Approximation und die Reichweite des Wirkungsprinzips voll ausgenützt, indem Bahnen (genauer diskrete Punkte) so lange ausgelost werden, bis die zugehörige Wirkung nicht mehr wesentlich kleiner wird. Dieses Verfahren kommt fast völlig ohne den klassischen Bahnbegriff (die stetige und vor allem differenzierbare Funktion) aus und ist deshalb geeignet, die Newtonsche Physik und Mathematik zu hinterfragen. Wenn man bedenkt, daß es die moderne Physik und Mathematik ohne eine starke Verallgemeinerung des Funktionsbegriffs (Distributionen) gar nicht gäbe, so ist die Fähigkeit zum Hinterfragen sicher ein lohnendes Lernziel. Dazu muß nicht theoretisiert werden, im Gegenteil: So kann der Mathematikunterricht wieder vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Funktionstypen werden nicht auswendig gelernt und auf ihre Eigenschaften untersucht (Kurvendiskussion), sie werden erfunden, weil man sie braucht. Nur mit dieser naiven Haltung öffnen sich wieder Perspektiven im Mathematikunterricht (die allerdings schon Aristoteles kannte). Funktionen wurden lange genug als Selbstzweck behandelt. Wozu brauchen wir sie überhaupt? Nur damit wir uns Messungen sparen und vorausrechnen können. Man sollte sich nicht scheuen, diese „Banalität" wieder zum Ausgangspunkt zu machen. Wem das nicht anspruchsvoll genug erscheint, der kann damit getröstet werden, daß man über Funktionen nachdenken und Theorien aufstellen kann, vielleicht sogar zur reinen (mathematischen) Erkenntnis schlechthin kommen kann. Aber wozu die Erkenntnis? Um sich Messungen zu sparen - denke ich.


Hier ist eine Reaktion zur Einführung der Variationsrechnung in 'Moderne Physik mit Maple':

Prof. W.N. Mei

Department of Physics

University of Nebraska at Omaha

 

1.9.1997

 

Dear Dr. Komma,

Thank you in advance for reading my letter. I learned a lot from studying your book entitled "Moderne Physik mit Maple - von Newton zu Feynman" in which the contents and depth covered are very substantial. As I told you before, we have to "guess" through your book [Anm.: deutsche Sprache]. Nevertheless, I still seriously suggested that as the major reference to the students in my Mechanics, Electromagnetism, and Quantum Mechanics courses.

[... es folgen fachliche Details zur Anwendung der Variationsmethode bei der Bestimmung von Energieeigenwerten ...]

After teaching several advanced physics courses such as Classical Mechanics, Quantum Mechanics and Electromagnetic Theory for the past years, I start to agree that adopting Maple and many other computer algebra packages may be helpful to students who are not strong in mathematical manipulation. In doing so, we shall not discourage those enthusiastic ones from joining the areas of experimental physics. But for students who are aiming at the theoretical physics, I still insist on the traditional drill. Only when they were dealing with lengthly and repetitive computation, I allowed them to use the package to verify their results. This is just like teaching arithmetic to the beginners, one only uses the pocket calculators to check the final answers. Unfortunately, not all my colleagues agree with me. I wonder what is your opinion?