Bildnis K.

 

BILDNIS K. (Aufschrift auf der Bildrückseite)

Gedanken von Karl Michael Komma über das Portrait, das Irene Widmann 1966 von ihm angefertigt hat.

WidmannKMK

 

Es ist immer ein Abenteuer, seinem Abbild gegenüber zu treten. Das Bild aus dem Spiegel folgt uns mit Licht und Schatten täglich treu und beharrlich. Wir erleben wohl Überraschungen, Enttäuschungen vor ihm – und sind doch daran gewöhnt als an das uns Ähnlichste. Die Fotographie hat viele Möglichkeiten, uns zu schmeicheln, uns zu erschrecken oder zu verletzen. Aber das Reale, die von der Linse eingefangene Wirklichkeit unseres äußeren Ich und seiner Umgebung erlauben uns auch bei entstellender Perspektive kaum Zweifel an der Identität. Wenn aber ein Künstler uns porträtiert hat, beginnt unser Bild ein neues, ein anderes Leben. Es ist nicht die unerbittliche Spiegelung aus dem Glas, nicht der zufällige oder gestellte Realismus des Fotos, sondern die Transfiguration unserer Erscheinung – künstlerischer Ausdruck des Eindrucks, den wir auf den Maler gemacht haben. Ich will davon absehen, daß ein Zeichner, ein Maler von meinem Gesicht, von meiner Gestalt ein möglichst naturgetreues Konterfei schaffen wollte, daß ich also nur so wieder erscheine wie ich leibe und lebe.

Meine Meditation kreist um ein Kunstwerk. Eine Künstlerin hat sich mit mir auseinander gesetzt, sie hat ihre Phantasie mit dem, als was ich ihr erscheine, bewegt, hat es durch diese Phantasie verwandelt und in Zusammenhänge gebracht, die ihr notwendig waren. Entscheidend für mein Verhältnis zu diesem Bild ist die Anerkennung dieser Notwendigkeit, der Grad des Heimischwerdens zwischen den vier Latten des Rahmens, die Empfindung der Verwandtschaft zu den Zusammenhängen der Komposition.

Das Bild ist komponiert. Ich finde mich im Profil im unteren Teil der Bildfläche, nein, des Bildraumes, vor dem Flügel, der durch etwas mehr als eine Oktave der Klaviatur angedeutet ist. Meine Hände sind an ein Notenblatt gelegt. Die Schreibhand hat gerade eine akkordliche Folge notiert. Raum – mußte ich eben verbessern, denn das Bild hat durch zwei über und hinter einander liegende Teile eine besondere Tiefe. Es hat Hinter- und Vordergrund in mehrfachem Sinn. Über und hinter der aktuellen Komponierszene stuft sich die Paraphrase über das giorgioneske Melancholiebild (um 1510) in einen langsam verklingenden Abend, einen über Bergen sich öffnenden und dunkelnden Himmel hinein. Die Begegnung ist nicht zufällig. Mein Versuch, getrennte Künste zusammen zu sehen, mein eigener Hinweis in einem privaten Vortrag war der Anlaß. Das Bild, dem Dürers Melancholia und Raffaels Bologneser Caecilia zeitlich sehr nahe stehen, ist ein Sinnbild der Vergänglichkeit der Musik. In der Abendlandschaft sitzt eine weiß gekleidete Liraspielerin, gelöst in der Haltung ihrer Glieder, des Instruments, hingegeben dem Ende des Gesangs und des Spiels, dessen Töne in der Weite der Landschaft längst von den Lüften verweht wurden. Nur sie mag eine Erinnerung an die letzten Kadenzen in der Seele tragen, sie und ihr Gegenüber: ein Mönch, der ihr ein Stundenglas entgegen hält. Die Zeit, der Verlauf des Sandes, des Gesangs, des Liraspiels, des Tages, des (herbstlichen?) Jahres. Es ist eine wehmütige, aber schöne Stille in dem Bild. Schmerzlich, was wir vor ihm im ersten Augenblick, im ersten Herzklopfen empfinden; dann aber ungemein friedlich, schließlich sogar wohltuend und tröstlich.

Dieses eindringliche Bild also hat die Künstlerin zum Hintergrund gewählt, oder vielmehr zur Steigerung meines Porträts. Ich gewahre, daß ihr die Liraspielerin wesentlicher war als der Mönch. Der ist nur angedeutet, als ob der Abendhauch oder die Vergänglichkeit, von der er kündet, ihn selbst auszulöschen schon begonnen hätte. Ein erdbrauner Nebel. Die Sanduhr freilich, das Symbol, ist vergrößert und wie eine schneidende Dissonanz, ein Vorhalt über die Mitte des Bildes gestellt. (Das Mahnende wird dadurch noch verstärkt, daß über dem Stundenglas im Landschaftshintergrund ein alter Turm aufragt, an dessen ruinenhafter Erscheinung man auch die Vergänglichkeit menschlichen Bauens ablesen kann…). Die Diagonalen der Sanduhr lassen sich weiter fortgesetzt denken in die Ecken der Leinwand, über die Wände hinaus in Himmel und Erde. Der Schnittpunkt ist der Ort der Zeitlosigkeit, der Stille, die unbewegliche, ewige Mitte der Wandlungen und des Vergehens. In den vier Winkelräumen sind mannigfache lineare Kontrapunkte und flächig wie farbig entsprechende Harmonien zu entdecken. So liegen z.B. die erdfarbenen Töne im Raum des Mönchs und des Komponistenkopfs, die hellen, fast unirdisch schimmernden Weißklänge verbinden Frau Musica und das Notenblatt. Von den linearen Entsprechungen fallen sogleich die des Bergkonturs und meiner Stirne auf, aber auch die Steile der Hände findet sich im Bergland wieder. Bin ich mit Kopf und Leibansatz dem Erdraum des Mönchs zugeordnet, so reicht der schmale, visierende Blick hinter der Brille in den Raum der Frau Musica, zu der sich meine Hände erheben. Ist es nur die Gebärde des Schreibens, der Rast zwischen den Zeilen? Kann es nicht auch jederzeit ein Händefalten werden? Oder ist es ein Auffangen der Klänge aus dem alten Bild, von den Saiten der Lira? Die Akkorde blieben wie Trauben am horizontalen Spalier der Lineatur hängen, vieldeutige Gebilde jenseits aller Bestimmbarkeit, Ahnungen von Klängen, die gleichsam stehen und eine Weile schwingen. Eine Weile – auf der vorgeschriebenen Bahn der in parallelen Linien verlaufenden Zeit, Kontraste zu dem Strom, der das Auge immer wieder von links nach rechts wandern läßt, ehe es sich nach oben wendet.

Die grünen und blauen Töne, die aus der Traumlandschaft mit Auen und See und Bergen in den Himmelsraum steigen (die Horizontmitte ist dem verklingenden Orange der versunkenen Sonne vorbehalten – ), haben in der diesseitigen Hälfte des Bildes nicht ihresgleichen. Aber sie gehen aus ihm hervor wie Obertöne aus Grundtönen. Synästhetische Überlegungen stellen sich ein. Es sind s p ä t e Farben und Töne. (Vor mehr als tausend Jahren glänzte in Guido von Arezzos Liniennotation der Ton c safranhell, „der ihm affine Ton f rötete sich in hellem Zinnober“*). Spät – aber das Geheimnis der Proportion ist wie je in den Farbtönen des Bildes – und Farben wie Töne leiten sich von Zahlengesetzen her. Beide wohnen im Äther. Sie schwingen in Lüften. E.T.A.Hoffmanns Klangfarbenphantasien haben hier keinen Sinn mehr. Was sollten Es Dur – waldgrün und As – Dur – ätherblau in meiner Musik, die rein chromatisch ist? Der Ton selbst hat Farbqualität, nicht nur der Dur- und Molldreiklang oder die Tonart mit allen ihren Erscheinungen. Nach Alexander Skrjabins Farbeinteilung (1911) müßten die Töne A (grün), Fis (blau), E (weißlich) eine Rolle spielen, C und G im rot-orange des Sonnenunterganges. Nach Dr. Jaap Kunsts Farbhören wären b (braun), h (etwas heller), c‘ (schwarz), d‘ (blau), d‘‘ (bläulichgrün), c‘‘ (gelblich-weiß) vertreten. Könnte man also nach der Farblichkeit des Gemäldes ein Stück komponieren?  ……….. Musikdarstellungen im Bild erwecken mir Doppelempfindungen. Aber hier fühle ich mich gereizt, nicht nur „meine“ eigenen Akkorde auf dem Notenblatt zu entziffern oder die letzten Töne der Lira zu erhaschen, sondern den Gesamtklang des Bildes zu hören, seine Komposition akustisch wahrzunehmen.

Wenn dies gelänge – und lange Betrachtung in der Stille müßte dahin führen – , dann wäre die im Geiste gehörte Musik wohl ein symphonisches Decrescendo und Allargando. Die Akkorde der Klavierpartitur würden sich nach heftigen Sforzati mildern und die Melodie des Gesangs wie einst die Lira da braccio tragen. Um dieses Melos, das selbst nur eine Erinnerung an viel frühere Wirklichkeit ist und stets weiter zurück sinkt, überhaupt eine Weile hörbar zu machen, müßte der vordergründige Klang sich rasch an die Grenze des Materiellen zurückziehen, zu einem feinsten Vibrato überleiten, das immer leiser und langsamer schwingt. Schließlich gäbe es nur eine Art Urklang von berückender Süße, die zugleich herb ist und eine Verbindung von Wohllaut und leisester Dissonanz, also zwischen Wonne und Wehmut. Als Kind schon hatte ich dieses Klangerlebnis. Später verglich ich es mit der

*) J.Handschin, Der Toncharakter, Zürich 1948, 326.

Empfindung der ersten Sekunde eines aus dem Ungewissen sich ankündigenden körperlichen Schmerzes. Die Grenze zur eigentlichen Schmerzwahrnehmung ist noch nicht überschritten. Es müßte gar nicht Schmerz werden, das Gegenteil ist gerade noch möglich… Aber diese Empfindung bliebe stehen, wendete sich nicht zum Schlimmen, hätte nur einen Unterton von Weh. Der jedoch stammte aus dem ständigen Schwinden und Langsamerwerden, nicht aus Sorge und Angst, daß ein Unheil kommen könnte.

Damit bin ich beim Wesen des Bildes angelangt. Bei seiner Aufgabe, die es gerade in diesen Wochen in meinem Leben spielt. Es zeigt mir (ich selbst löste diesen Vorgang aus – ) die Vergänglichkeit der Musik in unmittelbarer Verbindung mit mir, mit meinem Tun, mit der von mir hervorgebrachten Musik. Nicht, dass es nötig gewesen wäre, mich mit der Geschichte der Tonkunst zu konfrontieren. Ich lebe mit ihr. Die Musik, der Giorgione oder sein Schüler um die Entstehungszeit des Melancholiebildes gelauscht haben, ist mir vertraut. Venedig ist eben in die europäische Musikgeschichte eingetreten, hat in San Marco den ersten namentlich bekannten Kapellmeister. Ottaviano dei Petrucci druckt in der Lagunenstadt seit 1501 mit beweglichen Typen die große polyphone Kunst des Westens, dann aber auch die Lyrik der Renaissance-Gesellschaft: Frottolen, Canzonen, Sonetti für begleiteten Gesang. In Urbino, am Hofe des Federigo da Montefeltre, blüht diese Kunst. Das Lira-Spiel ist unerläßlich für den gebildeten Hofmann. Castiglione beschreibt die Musizierformen im zweiten Buch des „Cortegiano“: „Bella musica…parmi il cantar bene a libro sicuramente, et con bella maniera; ma anchor molto più il cantare alla viola.“ Man sang zur Lira („sopra“ und „su la lira“), rezitierte, improvisierte mit dem Instrument, das den Humanisten als antikes Symbol erschien. Wie die Leier der Antike hatte sie sieben Saiten. Die Maler und Skulpteure stellten immer wieder Apoll, Orpheus, Homer mit der Lira dar.

Frau Musica spielt in unserem Bild auf diesem Instrument, das wie kaum ein anderes in der Geschichte der Musik ausschließlich der Improvisation gewidmet war. Seine Saiten dienten der Eingebung des Augenblicks, dem rasch wechselnden Spiel zur Rezitation. Ist es verwunderlich, daß es vom Maler um 1510 in das Gleichnis der Vanitas gestellt wurde? Und die Musik dieser Tage? Wir kennen sie, die ersten Drucke haben mehr bewahrt als aus Jahrhunderten zuvor in Handschriften übrig blieb. Aber – lebt sie noch? Ist  sie nicht verhallt in den unermeßlichen Räumen der Vergangenheit? Was heißt das schon, daß wir Schallplatten von diesen Sätzen machen können, auf nachgebauten Instrumenten, mit nachempfindenden Stimmen werkgetreu verfahren? Nie werden wir den Reiz der Improvisation wieder entdecken können! Sie ist für immer dahin. Ich habe zu viel von Kenntnissen gesprochen. Da nützt kein Prahlen: wir wissen nicht, wir ahnen nur, was auf der Lira im Studiolo des Federigo (sie verwandelte sich dort in eine kostbare Intarsie), auf dem Instrument des Bellinischen Engels in San Zaccaria zu Venedig, des Carpaccio-Engels in der Accademia, was in der Sacra Conversazione des Palma Vecchio wirklich gespielt wurde. Wir werden nie erfahren, was Leonardo an der Lira reizte, was Raffael dem Spiel seines Lehrers Timoteo Viti verdankt. Es ist ein Ruhm „auf Kredit“. (Wenn uns Hörer von 1966 schon eine Phonogramm-Aufnahme des Klavierspiels von Max Reger oder Richard Strauß befremdet, die um 1905 angefertigt wurde, weil die Anschlagsarten, das Pedalisieren, die Rhythmik und Agogik sich entscheidend verändert haben, wie sollen wir aus den Notenzeichen der Denkmäler auf die Improvisationskunst um 1500 schließen können?!)

Im Freien, in der Landschaft singen und spielen – , das ist schon längst abhanden gekommen. Für den Komponisten unserer Tage, diesen blassen Stubenhocker, diesen Auto-, Schnellzugs-, Caravellen-Insassen, diesen nervösen, gehetzten Stoppuhrträger, Gema-Rechner, diesen armseligen Konzertsaal- und Funkstudio-Nomaden wäre es beleidigend, seine Musik im Freien – zu denken, geschweige denn zu spielen oder zu hören. Schon gar ohne Presse, ohne Publikum, ohne Mikrophon! Natur? Das ist für die Ferien, vielleicht zur Inspiration, wenn die überhaupt nötig ist. Wo sollte man zwischen Hügeln die Apparatur aufbauen? Wo sind die Netzanschlüsse für die Generatoren und Lautsprecher? Nein: im Freien macht nur das Volk Musik. Das Freie ist gerade recht für die Folklore.

Vom Süden ein Traum. Aus den Laboratorien unserer Nebelzonen. Vom Leben unter dem Himmel, vom Leben mit Blumen und Bäumen. Ein Traum vom Spiel. Aus den Betongrüften der Forschung. Ein Strom von Luft und Wiesenatem dringt herein, denk‘ ich an Gaudenzio Ferraris Engel mit der phantastischen Lira auf dem Madonnenbild der Turiner Pinakothek. Und Giorgiones schönstes Musikbild? Das ländliche Konzert? Ein Traum von Sommerwärme, von Flöten- und Lautenton im Hain, von reifer Milde der nackten Frauen und dem gelassenen Spiel unter hellem und wolkichtem Himmel. Und Raffaels Lira spielender, hingerissen singender Apoll im Parnaß, d.h. in italischer Baumlandschaft mit den Musen? Und Veroneses Musikanten vor dem prächtigen Garten des reichen Mannes? Unabsehbare, unaushörliche glückliche Träume vom Spiel unterm Himmel, aufsteigend aus gequälten Herzen, aus einer Zeit, der selbst die Vokabeln „frei“, „Spiel“ verfremdet, vergiftet sind vom Qualm, der aus ihren Kerkern und Laboratorien quillt.

Welche Verarmung! Wieviel Verluste werden vor einem Bild offenbar, das Musik zum Thema hat! „Während die übrigen Künste ihre Werke ein für allemal hinstellen können“, meint Jakob Burckhardt in den „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“, hängt die Musik „von stets neuen Anstrengungen der Nachwelt ab, nämlich den Aufführungen, welche mit den Aufführungen aller seitherigen und (jedesmal) zeitgenössischen Werke konkurrieren müssen“. Die Unvergänglichkeit der Musik ist zweifelhaft. Die „Fortdauer unseres Tonsystems“ ist nicht ewig. (Burckhardt ahnte auch Veränderungen der rhythmischen Qualitäten: ahnte er den Einbruch der diskontinuierlichen Bewegung?!) „Mozart und Beethoven können einer künftigen Menschheit so unverständlich werden, als uns jetzt die griechische, von den Zeitgenossen so hoch gepriesene Musik sein würde. Sie werden dann auf Kredit groß bleiben, auf die entzückten Aussagen unserer Zeit hin….“

Aber nicht nur die Meisterwerke der Tonkunst stehen in der eben angedeuteten Gefahr. Viel mehr noch sind die spontanen Äußerungen, die Improvisationen, die Fantasien flüchtig wie Rauch und Wind, wie Wolken und Wellen. Entzückte Aussagen der Zeitgenossen verliehen auch den Improvisationen vergangener Epochen Nachruhm. Aber die Fantasien Bachs, Mozarts, Beethovens waren für den Augenblick bestimmt. Die Frist des Stundenglases war ihre Zeit. Sie spielten und sahen den Sand hinabrinnen, spürten den Fortgang, das Hinübergehen. Weil sie aber jederzeit wieder anheben konnten, war diese flüchtige Kunst nie in Gefahr. Die Melancholie lebte als feines Ingrediens, als ein enharmonischer Flor zwischen den Tönen, aber sie verdüsterte sie nicht.

Selten hat ein Musiker den Schmerz über die Vergänglichkeit der Musik und des Musizierens komponiert. Orlando di Lasso mag Welt- und Lebensende gleichermaßen gemeint haben, als er die erschütternde Motette „In hora ultima“ schrieb.

In hora ultima
peribunt omnia:
tuba, tibia et cythara,
iocus, risus, saltus,
cantus et discantus.

Werk und Improvisation der Musik sind immer von einer „hora ultima“ bedroht: Denn wer vermag zu sagen, ob eine Wiederholung möglich sein wird? Uns Späten ist im Bereich der ars musica auch die Improvisation unmöglich geworden. Wir beneiden die Jazzmusikanten (das Mittelalter hätte sie faex musicorum genannt!) um die Möglichkeit und Fähigkeit des freien Spiels. Neueste Kompositionen planen auch ad libitum-Partien ein. Aber organisierte Freiheit ist Knechtschaft. Diktiertes Spiel entspringt der Arglist von Täuschern. Dahin ist die „himmlische Arglosigkeit“ (Huizinga).

Die Verarmung betrifft neben dem stets möglichen Verlust der Dauer und des ungebundenen Spiels noch ein drittes: den Bezug zur Natur. Nie hatte Musik (wie alle Kunst) einen solchen Grad von Künstlichkeit und Naturferne. Die Verfremdung des instrumentalen Tons und der Menschenstimme ist ein deutliches Zeichen dafür. Man vergleiche sie nicht mit den uralten Stilisierungsmöglichkeiten, die unter allen Umständen stets Menschliches aussagten. Die Flucht vor der Natur als Spiel-Raum betrifft auch unsere Musik.

Da stehe ich nun vor der Allegorie meines Porträts und bin durch die Modulationen der Gedanken in eine scheinbar heillose Trauer verfallen. Ein trüber Akkord vertieft die Betrübnis. Fermate des Todes.

Höre aber, wie nach der atemlosen Stille, nach der Beklommenheit der Generalpause wieder Töne quellen, angenehmere, freudenvollere.

Natur und Kunst sie scheinen sich zu fliehen,
und haben sich, eh man es denkt gefunden;
der Widerwille ist auch mir geschwunden,
und beide scheinen gleich mich anzuziehen.

Goethes Sonett von 1802 kommt mir in den Sinn. Warum sollte man es nicht auch musikalisch zu deuten versuchen? Fliehen und Finden gehören wie Atemzüge zusammen. Wir streben in mancher Beziehung tiefer in die Natur der Klänge hinein als je zuvor. Die Rangordnung der Obertöne besteht in alle Ewigkeit, aber die vom Grundton entfernteren Teiltöne sind uns vertrauter geworden. Wir scheinen dem als Flüchtige, der die Harmonik verwichener Jahrhunderte für die einzig richtige hält. In Wahrheit lösten wir uns nur vor ihrer Ausschließlichkeit, um spiralig tiefer in das Naturwesen des Tones einzudringen. Den Forschern ist es gelungen, die Zusammensetzung der Töne zu beherrschen. Freilich lauert in dieser Kernspaltung des musikalischen Atoms der Tod. Aber sein Zwilling Leben will mit neuer Kraft aus dem Schoß des Unhörbaren hervorbrechen. Wir schaudern bei den Wehlauten und Mißtönen der kreißenden Mutter. Wer weiß aber, ob nicht bald neuer Wohllaut geboren wird? Im elektronischen Klang erlebe ich oft, wenn er nicht von Bubenhand zu unsinniger Spielerei mißbraucht wird, ein Urwesen, das – Natur im eigentlichen Sinne ist. Als Kind schon, in trostloser Schulstunde hörte ich solche riesenhaften, leis vibrierenden Klänge, die Erd und Himmel aneinander spannten.

In der extremsten Lage, da eben die Interpretation, die menschliche Deutung, die persönliche Variante mit ihren vielen improvisatorischen Freiheiten, da das alte Rubato unmöglich wird, weil der Komponist die einzig authentische Interpretation selbst aufs Tonband notiert, – in dieser hoffnungslosen Lage muß eine Möglichkeit des Aufbruchs zur humanen Freiheit der Musik beschlossen sein. Gewiß, das Ende ist leichter zu sehen als der Anfang. Wer weiß aber, ob nicht bald ein Instrumentarium entsteht, das auch die Improvisation wieder erlaubt, das Spiel im alten Sinn?

Und die Dauer? Hat nicht der Menschengeist in den letzten Jahrzehnten Geräte erfunden, die der Bewahrung dienen? Ja, sind wir nicht schon in Gefahr zu ersticken in Klangkonserven, unzähligen Multiplikationen des Kunstwerks der Musik? Vielleicht aber ist dies alles nötig, um eine Spur unserer Erdenmusik über gigantische Katastrophen hinüberzuretten in andere Äonen.

Selbst Jacob Burckhardt, den Zeugen pessimistischer Kulturuntergangsstimmung, kann ich mit Gegenwort und Gegensinn berufen. Er wußte um die Vergänglichkeit der Kunst, aber auch um die „Fähigkeit zu Renaissancen“: „Entweder ein und dasselbe oder ein später gekommenes Volk nimmt mit einer Art von Erbrecht oder mit dem Recht der Bewunderung eine vergangene Kultur teilweise zu der seinigen an“.

Peribunt tuba, tibia, cythara……cantus et discantus? Die Lira schweigt. Doch mein Klavier tönt, solange ich es spielen darf. Solange Luft ist, gibt es Musik, kann sie erklingen. Irdische Musik, Menschenmusik. „Gib dem Himmel Luft, und es wird wirklich und wahrhaftig Musik erklingen“, schrieb Kepler 1599 an Herwart von Hohenburg. Er meint: uns hörbare Musik. Denn wir ahmen ja nur die Schöpfung nach, die mit den „Himmelsbewegungen nichts anderes als eine fortwährende mehrstimmige Musik“ ist. Wir wollen „die fortlaufende Dauer der Weltzeit in einem kurzen Teile einer Stunde mit einer kunstvollen Symphonie spielen und das Wohlgefallen des göttlichen Werkmeisters an seinen Werken so weit als möglich mitkosten in dem so lieblichen Wonnegefühl, das diese Musik in der Nachahmung Gottes bereitet“. Musik – eine imitatio Dei.

Ich werde fröhlich im Ausatmen vor dem Bilde, wie ich im langen Einatmen zuerst traurig werden mußte. Die Partitur ist erst begonnen. Das Fragment wird wachsen, sich vollenden. Frau Musica wird den Bogen wieder ansetzen zu neuem Spiel. Der Schatten des Mönches wird die Sanduhr umdrehen, der volle wird in den leeren Kelch die Körner gießen. Die Sonne wird nach Nacht und Grauen wieder heraufkommen, Werden und Vergehen bescheinen, Klingen und Verklingen durchglühen. Unaufhörlich ist dieser Wandel.

Dies lehrte mich das Bild.

5.März 1966

Die Schreibweise des maschinenschriftlichen Originals habe ich beibehalten.

Barbara Kratky