Wallerstein

 Freitag, 17. März 1950                        Rieser Nachrichten                            Nummer 33 Seite 13    


Fotos von Dr. Lotte Komma: Das Schlößchen, Dreifaltigkeitssäule, Die Reitschule 

Zum Geleit!

Die Gemeindeverwaltung begrüßt mit Freude und Genugtuung den Entschluß der großen Heimatzeitung, dem kommunalpolitischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben des Marktes Wallerstein eine Sonderseite zu widmen und damit die enge Verbundenheit zwischen Presse und Landschaft eindrucksvoll zu betonen. Seit Jahrhunderten als Sitz des angestammten Fürstenhauses in besonderer Weise ein Mittelpunkt des Rieses, hat Wallerstein heute eine alte Tradition mit neuen Aufgaben zu vereinigen, die durch die sozial und wirtschaftlich tiefgreifenden Veränderungen in seiner Bürgerschaft schwierig und verantwortungsvoll geworden sind. Zu ihrer Bewältigung ist die ausgleichende und verständnisvolle Lenkung der öffentlichen Meinung, wie sie der Presse als wichtigste Aufgabe zukommt, unentbehrlich. Die Gemeindeverwaltung erhofft von der fortschreitenden Vertiefung der Beziehungen zwischen Presse und Volk segensreiche Wirkungen und wird ihrerseits dazu beitragen, diese enge Verbindung zu fördern.

Wallerstein, den 13. März 1950.                                             Bürgermeisteramt: Stoller. 

 

Wallerstein in Geschichte und Gegenwart

Dr. Karl Michael Komma

Ein lieber Besuch hat sich angesagt. Wir fahren ihm nach Nördlingen entgegen und zeigen ihm dann aus einem offenen Fenster des „Riesexpreß“ die einprägsame Silhouette unseres Wallerstein. Blauseiden liegt Vorfrühlingsdunst über Wiesen und Äckern. Im Sonnenglanz ringsum die blanken Dörfer. Inmitten der Ebene aber erhebt sich, von hohen Bäumen umstanden, ein Felsenmassiv, an das sich der Ort mit Kirche, Schloß, Häusern und Höfen anschmiegt. Unser Gast rühmt den lieblichen Anblick und wir versprechen ihm, noch in der Mittagsstunde einen Gang durch Wallerstein zu machen und wie auf einem Bilderbogen die wesentlichen Züge des Marktes, seiner Geschichte und gegenwärtigen Aufgaben zu deuten.

Ein anmutiges Bild

„Das ist ja gar kein gewöhnlicher Markt!“ wir gehen durch die neu gerichtete breite Hauptstraße am Krankenhaus vorbei und biegen beim stattlichen „Sechserbau“, den J. A. von Belli de Pino um 1790 für eine aus sechs Herren bestehende Baugenossenschaft errichtete, in die Felsenstraße, die alte Judengasse ein. Die große Synagoge, die sich kurz vor der Abzweigung erhebt, fällt dem Besucher auf. In ziemlichen Anstieg geht es an schmucken Häuschen vorbei, die teils ihre Giebel der Straße zukehren, teils mit merkwürdigen Anbauten frontal stehen. Ein prächtiges Wirtsschild lädt zum „Ochsen“ ein. Aber wir wollen erst einmal die Augen trinken lassen! Der äußerste Gebäudering der alten Burg steht uns entgegen. Wir biegen ab und gelangen über Brücke und Graben zum Torbau, über dessen Bogen zwei Sprüche aus dem 126. Psalm an die Abhängigkeit alles menschlichen Tuns vom göttlichen Willen gemahnen. Im Torweg droht ein Tafelbild mit der „Straff der Burgfridsbrecher“: ein Beil schwebt über der Hand auf dem Block. Wir geloben, ganz friedlich zu sein und umschreiten den Felsen. Der Freund, ein Theaternarr, kann sich vor Freude über den Zauber der „Naturbühne“ am Felsenloch nicht beherrschen und steigt hinunter, ein Stück „Orpheus“ und „Freischütz“ zu probieren. Dann stehen wir im leichten Wind droben und blicken in die Runde. Die alte Reichsstadt Nördlingen grüßt vom Süden mit Türmen und Giebeln, der „Daniel“ blinkt im Mittagslicht. Und während in den 99 Orten, die man von hier sehen soll (wer hat sie noch nicht gezählt?) die Mittagsglocken zu läuten anheben, wandern die Augen die Hügelketten entlang zum Goldberg, zum Ipf, entdecken Schloß Baldern auf der Waldkuppe, das Zipplinger Kirchlein, nach den Wäldchen hinter Munzingen die weiße Flanke des fränkischen Hesselberges hinter der eigenartigen Bodensenke zwischen Marktoffingen und Maihingen, streifen die Jurahänge im Westen und kehren wieder zu den Höhen hinter Nördlingen, den Albausläufern, zurück. Ein kleines geologisches Gespräch schließt sich an. Der Gast erlebt schaudernd die tertiäre Explosion des Rieskessels und ist heilfroh, in dem großen See, dessen Muschelgetier nun ewig im Kalkstein schlummert, hoch auf dem Felsen gerettet zu sein. Da zieht die Wirklichkeit mit der Anmut des Ortsbildes den Blick ins Gegenwärtige. Ich wähle den Heimweg so, daß wir nach einem kurzen Besuch im Rundbau der 1625 erbauten Mariahilfkapelle und im Garten des Institutes der Englischen Fräulein, vorbei am ehemaligen Piaristenschloß und der gotischen Schloßkapelle Sankt Anna zum Neuen Schloß gelangen, hinter dessen Hof sich die freundliche Weite des Parkes auftut. Ich deute hinauf zu den Sälen im ehemaligen „grünen Haus“, erwähne Haydns Besuch von 1790 und zu den imaginären Klängen der „Londoner Sinfonie“ schreiten wir beschwingt in den alten Park. Die Magnolien haben schon große Knospen, die Kastanien auch. Am biedermeierlichen Gewächshaus kann man sich so schön sonnen und durch die Stämme und Zweige zum „Schlößchen“, zum Witwensitz, hinüberschauen. Belli de Pinos Bau weckt tausend Erinnerungen. Wollen wir „Figaro“ spielen oder die „Kleine Nachtmusik“ im Scheine der Fackeln? In der mächtigen Reitschule regt der scharfe Geruch der Pferde den begeisterten Freund an, ein paar Lieblingsstellen aus Bindings „Reitvorschrift für eine Geliebte“ zu zitieren. Die barocke Gala-Berline und die Schlitten, darauf man in dräuenden Löwen und Drachen fröhlich dahinsauste, haben ausgedient. Wir verlassen den Schloßbezirk. Die katholische Pfarrkirche St. Alban, deren erste Erwähnung 1242 geschah, nimmt uns in ihre vor kurzem würdig erneuerte zweischiffige Halle auf. Sankt Albanus, der Namenspatron vieler Wallersteiner, trägt sein Haupt in Händen. Ein spätgotischer Kruzifixus blickt leidensschwer herab. In der Sakristei stehen herrliche Paramentenkästen im Renaissancestil aus dunkler Eiche mit Akanthus und Fruchtzierat. Neben der Kirche das Pfarrhaus, ein Juwel der Baukunst um 1580. Am Ende unseres Rundganges stehen wir vor der barocken Pestsäule von 1725. Vergleiche mit Prager und Wiener Bildsäulen kommen uns in den Sinn. Im Rückschauen gewahren wir noch einmal das organische Bild der Ortsmitte mit dem Zwiebelturm der Pfarrkirche. Nein, das ist kein gewöhnlicher Markt! –

Wallersteiner und Sudetenrieser vereint

Das Bild Alt-Wallersteins hat sich in den letzten fünf Jahren nicht wesentlich verändert. Aber es ist schöner geworden. Die Brandruinen von 1945 sind verschwunden. Viele Häuser leuchten in neuem Verputz, am Osthang des Felsens sind schmucke Wohnhäuser entstanden und das Sorgenkind der Gemeinde, die Hauptstraße, hat endlich, wenigstens bis zur Ortsmitte eine frische Decke bekommen. Über die Friedhofsmauer ragt eine neue Leichenhalle. Drinnen, auf den Gräbern der Gefallenen aus den letzten Kampftagen, haben Gras und Blumen längst feste Wurzeln gefaßt. 39 Männer und Jungmänner sind nicht mehr aus dem Kriege heimgekehrt; 5 sind noch in Gefangenschaft. Aber wie sehr hat sich die Zusammensetzung der Bevölkerung seit dem Kriegsende verändert. Damals zählte man 1140 Einwohner, heute sind es 2063, davon 1266 Einheimische. Die Unglücklichen, die der Haß aus ihrer schönen Heimat im Osten, aus den Sudetenländern, Schlesien und den Südoststaaten vertrieb, kamen zumeist 1946 in grenzenloser Armut hier an. Es war für alle eine harte Probe. Wie könnte mit Worten ausgesprochen werden, was in all den Monaten gelitten, wieviel Enttäuschungen, aber auch wieviel Liebe erlebt wurde? Die Probe ist bestanden. In wenigen Fällen hat Unverstand das Zusammenleben erschwert. Allgemein aber fühlt man nun die Wachstumsringe des Verständnisses, das mit der Zeit Verbindungen schafft, die zunächst unmöglich schienen. Der wirtschaftliche Aufschwung des Marktes ist nicht zuletzt auf die gesteigerten Bedürfnisse und den Willen zur Bewährung zurückzurufen. Einheimische, Ostdeutsche und Evakuierte sind gemeinsam am Werk, eine wirkliche Gemeinde zu werden und die lustige Parole des Faschingsschwankes: „Wir bilden einen neuen Stamm, Sudetenrieser halt’s euch z’samm!“ zeigt deutlich, daß der Zusammenschluß der so verschiedenen Stammesangehörigen zum inneren Wunsch der 2000 geworden ist. Der Frage „wo goscht na“ steht nun im Straßengespräch die egerländische Fassung „wou gäihst hi“ beinahe gleichberechtigt gegenüber. Aber die Kinder der Neubürger schwäbeln unverkennbar. Als ich jüngst meinen Buben strafen mußte, schmollte er in echter Rieser Mundart: „Buala, des wird gsagt!“ Es ist sehr bedauerlich, daß die schöne einheimische Tracht kaum mehr getragen wird. Jetzt geht nur noch der Bauer Egetemeyer im blauen Kittel und mit der schwarzen Kappe durch den Markt. Dafür bietet im Winter der Bessarabiendeutsche Gerstenberger mit seiner großen Pelzmütze einen hier ungewohnten Anblick. Die Sudetendeutschen und Schlesier haben nur ihre Heimatsprache retten können. Wie lange wird sie noch klingen? Wer die Namen der Einheimischen studiert, wird bald gewahr, daß der Stamm der Urwallersteiner verhältnismäßig klein ist. Neben württembergischen Familiennamen (wie z.B. dem alten Waffenschmiednamen der Bozenhard) sind in den vergangenen Jahrhunderten vor allem in der fürstlichen Beamtenschaft immer wieder östliche Namen aufgetaucht. Die Beziehungen des Fürstenhauses zu Böhmen waren von jeher rege. Davon wird noch die Rede sein.

Bauernfleiß und reges Gewerbeleben

Die soziale Struktur Wallersteins ist außerordentlich vielgestaltig. Der Ort war immer durch die Residenz bestimmt und hat dadurch nicht nur im Baulichen sein besonderes Gepräge erhalten. Über das Fürstenhaus und die fürstliche Domänenverwaltung handelt heute ein eigener Bericht. – In der sehr fruchtbaren Landschaft des Rieses, wo im Sommer die goldbraunen Weizenfelder wogen, wird das Bauerntum immer ausschlaggebend sein. Wallerstein hat 65 bäuerliche Betriebe, die eine Bodenfläche von 630,35 ha bebauen. Es gehört zu den eigenartigen Reizen des Ortes, in der Erntezeit die hochbeladenen Wagen zwischen den höfisch-feierlichen Fassaden hinfahren zu sehen, in der Weidezeit morgens und abends den Trott der Rinderherden, den wimmelnden Zug der Schafe oder ein andermal das lässige Wandeln einer Mastsau zu beobachten. – Dem Bauernfleiß entspricht ein reges Gewerbeleben. Die Zahl der Betriebe ist im vergangenen Jahrfünft von 77 auf 87 angestiegen. Viele Unternehmungen konnten sich entscheidend vergrößern und ihre Werkstätten und Verkaufsräume ausbauen. Das Brot, dessen Grundstoff die Bauern schaffen, wird in 5 Bäckereien bereitet, von denen einige dem Zug der Zeit nach Süßigkeiten folgend, auch Konditorwaren herstellen. 4 Fleischereien sorgen für alle, die nicht vegetarisch leben müssen, 2 Molkereien und 7 Lebensmittelgeschäfte und ein Geflügelhändler helfen jedem Hunger ab. 3 Gärtnereien bauen Gemüse und Obst, bieten aber auch den Blumenfreunden zarte und bunte Gewächse an. Die Markenbaumschule Richard Ritter wird schon in den nächsten Jahren in der Lage sein, das Ries mit hochwertigem Pflanzmaterial in Obstbäumen aus heimatlichem Boden zu versorgen. Dies ist wichtig wegen der gleichen klimatischen und bodenmäßigen Verhältnisse, denn Obstjungpflanzen sind sehr empfindsam. Die Firma betrieb seit 1810 eine Gemüse- und Gemüsesamenzucht, verband damit später eine Blumenzucht und Blumenbinderei und gliederte sich im Jahre 1930 eine Markenbaumschule an in der Erkenntnis, daß der Jungbaum als Pflanzmaterial aus heimatlichem Boden kommen muß, soll er ertragsfreudig im Alter sein. 13 Gastwirtschaften stehen den durstigen und Rastsuchenden offen und eine Weingroßhandlung kann die Freunde geistiger „Blumen“ zufriedenstellen. Für den Bedarf an Kleidung sind zwei Textilgeschäfte, 6 Schuhmacher, 4 Schneider, zahlreiche Schneiderinnen, eine Modistin und 2 Strickereibetriebe tätig. In den Reihen der Neubürger sind viele Heimarbeiterinnen für Nördlinger und Allgäuer Unternehmungen am Werk. 3 Friseure helfen den Schönheitsbedürftigen bei der Erhaltung ihres werten Äußeren. Eine Papierhandlung ist kürzlich eröffnet worden. 2 Uhrmacher halten die Zeit im richtigen Gang. 2 Kohlenhändler wärmen die kalten Stuben, ein Ofensetzer baut die geeigneten Öfen dazu. 2 Spengler richten das Kochgeschirr, einer davon ist in weitem Umkreis als Installateur, der andere als Kunstschmied bekannt. Ein Schmied bedient wie ein Wagner und Karosseriebauer vor allem bäuerliche Kundschaft. 4 Schreiner und 1 Tapezierer befriedigen alle Wünsche der Möbelkäufer und Heimgestalter. 2 Zimmerleute, darunter ein Spezialist für Treppenbau, ein Steinmetz, ein Mechaniker und ein Autoreparateur sowie zwei Fuhrunternehmen schließen den Reigen der Gewerbetätigen. Wem der pünktliche Verkehr der Bundesbahn, der für die vielen Wallersteiner Arbeiter in Nördlinger Betrieben den Charakter eines Vorortverkehrs angenommen hat, nicht genügt, dem stehen ein Mietauto- und 2 Autobusunternehmungen am Ort zur Verfügung. Hoffentlich habe ich nichts vergessen. Auf Namensnennung wurde verzichtet, weil unsere Anzeigenseite genügend Aufschluß gibt.

Von den drei Industrien Wallersteins ist die fürstliche Brauerei in unserm Sonderbericht angeführt. Nach dem Kriege wurde die früher in Berlin und Magdeburg beheimatete Essenzen- und Fruchtsaftfabrikation von Dr. Piper-Flemming u. Co. hier aufgebaut. Der alte Weinhändler Abendanz, der in der napoleonischen Zeit bis zu 80 Pferde in der ganzen Umgebung laufen ließ, um den damals ungleich höheren Durst der Rieser zu befriedigen, würde sich wundern, wenn er die Veränderungen sehen könnte, die in den Kellereien des Diemantsteinschen Hauses vor sich gegangen sind. Anderthalb Jahre lang wurde der Schutt aus den Kellern gefahren und zum Baugrund für die neuen Häuser an der Birkhausener Straße aufgeschüttet. Neue Decken wurden eingezogen. Nun arbeitet die Belegschaft (80 Prozent Ausgewiesene) unter Leitung des so humorvollen und saftkundigen Chefchemikers Dr. Lochmüller (früher Schultheißkonzern) an der Bereitung naturreiner Grundstoffe für die Likör- und Fruchtsaftindustrie. Das Unternehmen hat davon abgesehen, sich mit der Konjunktur zu vergrößern, hat aber durch gebietsweise Verteilung des Absatzes die alte Kundschaft im ganzen Bundesgebiet erhalten. – Im fürstlichen Keller sind Dipl.-Ing. Hermann Ritzers Werkstätten für Holzbearbeitung und Modellbau untergebracht. Sie wurden am Ausgang des Krieges von Köln hierher verlagert und beschäftigen in ihrer Belegschaft von 37 Arbeitern 70 Prozent Ausgewiesene. Die Hauptarbeit besteht in der serienmäßigen Herstellung von Radiokästen und Tischuhrgehäusen. Außerdem steht der Bau von Modellen für jede Art von Guß, der nun vor allem Aufträge aus Bayern bringt, etwas für ganz Nordschwaben Einmaliges dar. Ing. Ritzer bildet planmäßig Hilfsarbeiter zu Spezialisten aus.

Dem in ihrem Tagwerk Erkrankten stehen vier Ärzte sowie zwei Dentisten mit Rat und Tat bei. Eine Hebamme ist Tag und Nacht bereit, dem kleinsten Wallersteiner den Weg zur Welt zu erleichtern. Die fürstliche Hofapotheke hilft mit allen erforderlichen Medikamenten. Wie im Krankenhaus, so sind auch im Versorgungsheim Mallersdorfer Franziskanerinnen den Gebrechlichen zur Seite. Von öffentlichen Anstalten seien schließlich noch die Raiffeisenkasse, die Waschanstalt und das moderne Postamt erwähnt.

Das geistige Leben einst und heute

Wallerstein ist der Sitz eines katholischen und eines evangelisch-lutherischen Pfarramtes. Das kirchliche Leben ist beiderseits sehr rege. Der Tradition entsprechend steht auch das gesamte Schulwesen auf dem festen Boden der christlichen Lehre. Vielen Neubürgern wird es wissenswert sein zu hören, daß es einst mannigfaltiger war als heute. Die deutsche Normalschule wurde 1788 eingeführt. Die Liste der Volksschullehrer reicht bis 1652 zurück und könnte sicher noch weitergeführt werden, wären nicht Akten im 30jährigen Krieg verlorengegangen. Das erste Schulgebäude war das Haus Nr.29 in nächster Nähe des „Adlers“. 1762 berief Graf Philipp Karl die Piaristen nach Wallerstein, deren Kolleggebäude (heute „Klösterle“) um 1764 erbaut wurde. Sie errichteten hier eine Knabenvolks- und Lateinschule, die lange Zeit hindurch wirksam sein sollte. 1842 schließt die Geschichte dieses Instituts, das aber als zweiklassige fürstliche Privatlateinschule bis 1913 weitergeführt wurde. 1812 bis 1820 bestand ein fürstliches Zeichnungsinstitut mit Unterricht in künstlerischen Fächern und Vermessungslehre, 1840 bis 1844 eine Feiertagsgewerbeschule, d.h. eine ausgesprochene Volkshochschule mit Vorlesungen über verschiedene technische Fächer. 1841 bis 1844 wirkte hier eine Forstschule. Von 1866 bis 1883 bestand als Filiale der Lehrerbildungsanstalt Lauingen eine Präparandenschule in drei Kursen.

Das sogen. Rein’sche Privatlehrinstitut von 1820, ein Vorläufer des Instituts der Englischen Fräulein, hielt seine Kurse bis 1856. 1859 wurde im „Klösterle“ die neue Schule als Filialinstitut der Englischen Fräulein von Mindelheim eröffnet. Schon 1864 konnte eine eigene Töchterschule mit Pensionat errichtet werden. 1873 gründete das Institut die Kinderschule. Das Haus Nr.80 in der Herrengasse wurde erworben und 1877 erfolgte die Trennung der Filiale vom Mutterhaus. 1904 konnte der Kapellenbau, 1910 der Neubau vollendet, 1930 der Piaristenbau gekauft und 1931 der Nordtrakt völlig erneuert werden. Die Jahre 1938/39 brachten den erzwungenen Abbau der Mittelschule und nach mancherlei Schicksalsschlägen konnte man erst 1945/46 den vollen Lehrbetrieb wieder aufnehmen. Heute unterweisen 11 Lehrkräfte und 2 Religionslehrer insgesamt 134 Schüler. Davon sind 80 Zöglinge und 30 Schülerinnen der Koch- und Nähkurse in den Wintermonaten. Das Institut umfaßt eine dreijährige Mädchenmittelschule, eine einjährige Haushaltungsschule und die genannten Kurse. Sein Ziel ist die Heranbildung von Mädchen zu gebildeten, lebenstüchtigen und charaktervollen Frauen und Müttern. Die Aufnahme in die Mittelschule setzt den erfolgreichen Besuch der 7. Klasse der Volksschule oder der 3. Klasse Oberschule voraus. Für den Eintritt in die Haushaltungsschule wird von den 16jährigen Mädchen eine abgeschlossene Berufsschulbildung verlangt. Ein sehr schönes, modernes und hygienisches Schülerinnenheim bietet den Rahmen für ein freudiges und harmonisches Gemeinschaftsleben. Das Abschlußzeugnis der Mädchenmittelschule schließt die mittlere Reife ein.

Die Volksschule mit zusammen 290 Schülern wird von 6 Lehrkräften (davon zwei Matres des Englischen Instituts und eine Sprachenlehrerin) und 3 Religionslehrern unterwiesen. Die Kinderschule wird nach wie vor vom englischen Institut betreut. Das Institut ist nicht nur in schulischer Beziehung ein Mittelpunkt für das geistige Leben in Wallerstein. Es war schon vor Jahrzehnten durch seine theatralischen Aufführungen bekannt und hat in den letztvergangenen Jahren unter der Leitung der kunstfreudigen Mater Oberin Pia Lindenmayer wiederholt durch Hauskonzerte mit namhaften Künstlern den Wallersteinern besondere Erlebnisse vermittelt.

Das Musikleben war schon vor 150 Jahren Wallersteins große Stärke. Der damalige Fürst Kraft Ernst war ähnlich musikbegeistert wie der Fürst Esterhazy in Eisenstadt. Er gründete 1785 eine Hofkapelle, die ihre Höchstblüte unter dem Sudetendeutschen Anton Rosetti-Rößler aus Leitmeritz erreichte und 32 z.T. hervorragende Musiker umfaßte. Rosetti gilt heute noch als der berühmteste Haydnepigone. Seine Kompositionen atmen eine köstliche Frische. Joseph Haydn konnte nach seinem Besuch in Wallerstein im Dezember 1790 sagen: „ – kein mir bekanntes Orchester hat meine Sinfonien mit soviel Präzision ausgeführt“. Der Meister hat für den Fürsten drei Sinfonien geschrieben. Wallerstein blieb noch jahrelang eine Hauptpflegestätte der Haydnschen Kunst. Nach Rosettis Weggang 1789 übernahm der Major und Musikintendant von Beecke, ein Schüler Glucks, der auch als Komponist erfolgreich war, die Kapelle. Er starb 1803 und wurde in Wallerstein beigesetzt. Es ist sehr interessant, daß in den alten Akten immer wieder sudetendeutsche und tschechische Namen auftauchen. So wurde z.B. 1807 der Hofmusiker J. Nep. Hiebesch Chorregent. Vorher hatte schon ein Franz Pokorny denselben Dienst versehen. In der Chorbibliothek waren neben den berühmten Österreichern und Italienern Werke des Deutschmähren F. X. Richter und des Deutschböhmen Tuma vertreten. Unter Rosetti wirkte ein Zwierzina als Solohornist und Janitsch als erster Violinist. Nicht nur Hofgärtner und Stallmeister, auch viele Musiker kamen aus Böhmen hierher. So ist es uns beinahe natürlich, an dieses Erbe wieder anzuknüpfen. Die Musikalität der Bevölkerung ist bekannt. Der Kirchengesang, die Leistungsfähigkeit der Chöre und Liebhabertheater beweisen sie immer wieder. Und die schönen Stimmen der jungen Männer, die in lauen Nächten ihre Ständchen erschallen lassen, könnten es mit mancher Berufsvereinigung von Volkssängern aufnehmen. – Der Berichterstatter hat es sich zur Aufgabe gemacht, nicht nur vortragend die genannten historischen Zusammenhänge darzulegen, sondern mit Serenaden und konzertanten Veranstaltungen ein Wiederaufleben der alten Wallersteiner Musikkultur zu bewirken. Se. Durchlaucht, Fürst Eugen zu Oettingen-Wallerstein bringt diesen Bestrebungen großes Interesse entgegen.

Der Kunstsinn blühte

Ein Geschlecht, das so viel Kunstsinn bewiesen hat und in Fürst Ludwig einen hervorragenden Sammler und Kenner von Gemälden besaß, wußte auch ausgezeichnete Künstler am Hofe zu beschäftigen. Die Maler- und Schnitzerfamilie der Brenner hat im 17. Jahrhundert Bedeutendes geleistet. Goldschmiede und Goldsticker waren vor allem mit der Schaffung von Meßgeräten und Paramenten beauftragt. Unter den Hofschreinern befanden sich Künstler von Rang. In unserer Zeit führt Ihre Durchlaucht, die Fürstin Julie zu Oettingen-Wallerstein mit ihren einzigartigen Krippenszenen, die alljährlich in St. Anna ausgestellt werden, das reiche bildnerische Erbe Wallersteins weiter. Der junge Nachwuchs der Einheimischen hat in Anni Bayer eine begabte Graphikerin und Kunstgewerblerin.

Die literarische Geschichte unseres Ortes hängt inniger mit Goethe zusammen, als man meinen möchte. Goethes „Urfreund“, Karl Ludwig von Knebel, ist hier geboren und hat seine ersten Kindheitsjahre in Wallerstein verbracht. Karl Heinrich Ritter von Lang, der Verfasser der Hammelburger Reisen“ und kritischer „Memoiren“, war von 1790 bis 1792 Hof- und Kabinettssekretär des Fürsten Kraft Ernst. Melchior Meyr, der das Ries in die deutsche Dichtung einführte, genoß seine erste Schulausbildung in Wallerstein. Heute ist eine namhafte Romanschriftstellerin und Verfasserin vielgelesener Jugendbücher, Clara Hohrat-Rommel, hier ansässig. Auch ihre Tochter, die Sängerin und Musikerzieherin Alberta Rommel, ist schriftstellerisch tätig.

Wallerstein brachte auch einen bedeutenden geistlichen Würdenträger hervor: Franz Alban Weckert, der als Bischof von Passau 1889 starb. Die wissenschaftliche Forschungstätigkeit war besonders im fürstlichen Archiv und damit zusammenhängend in Bibliothek und Sammlung Maihingen gegeben. Dr. Wilhelm Frh. Von Löffelholz, Dr. Georg Grupp und Dr. A. Diemand seien hier als die wesentlichsten Förderer der Geschichts-und Kunstwissenschaft genannt. Der Historiker, Kunstkritiker und Zeitungswissenschaftler Prof. Dr. Hans Adler setzt in der Gegenwart diese gediegene wissenschaftliche Tradition fort.

Ein Bilderbogen kann nur kleine Bilder aneinanderfügen, nur anregen und unterhalten. Die große Fülle an Geschehnissen und Schicksalen, die auch ein so kleiner Ort durch die eigene landschaftliche, geschichtliche und gesellschaftliche Situation aufweist, ergibt, wenn man sie schauend und hörend erlebt, ein anderes, plastisches und farbenreiches Bild. Es war der Sinn meiner Plauderei, allen Nachbarn und Mitbewohnern ein wenig Freude zu bereiten und ihnen das Schöne dieses Lebensraumes nahe zu bringen, dessen Pflege unser gemeinsames Bemühen sein sollte.

Das Fürstenhaus Oettingen-Wallerstein

Es dürfte nur ganz wenige Geschlechter in Deutschland, ja in ganz Europa geben, die wie die Oettingens schon nahezu 1000 Jahre mit gewissen Schwankungen im Laufe der Geschichte ihren heutigen Besitz innehaben. Wenn man denkt, daß bereits 987 ein Riesgaugraf Friedrich genannt wird, so kann man annehmen, daß auch dieser schon auf eine stattliche Zahl gewichtiger Vorfahren in diesem Gebiet zurückgeblickt haben muß. Bereits 1261 besitzt ein Graf Ludwig Oettingen das Schloß Wallerstein, das zuvor im Besitz der Hohenstaufenkaiser genannt wird.

Eine eigene Wallersteiner Linie des nach dem ursprünglichen Hauptsitz Oettingen genannten Geschlechts, gab es zuerst unter Johann I. (1415-49), während der heutige Stamm auf Wolfgang III. (1573-98) zurückgeht. Die alte Hauptlinie Oettingen-Oettingen starb dann 1731 aus, wodurch die Wallersteiner, unter Vergleich mit den Spielbergern, zwei Drittel von diesem Gebiet erbte, sich somit erheblich vergrößerte und 1744 den Reichsfürstenstand erhielt. Harburg und Hohenaltheim stammen aus diesem Erbe, während mit dem Aussterben des Balderner Zweiges Ende des 18. Jahrhunderts, auch diese Herrschaft hinzukam. 1806 verfiel mit der Mediatisierung die Landeshoheit teils an Bayern, teils an Württemberg. Fast alle bedeutenden Fürstenfamilien erscheinen in der Oetting’schen Stammtafel: die Hohenzollern, Wittelsbacher, Zähringer und die Württemberger sind teils mehrfach vertreten. Auch die Großmutter der Kaiserin Maria Theresia war eine Oettingen. Der heutige Chef des Hauses, Fürst Eugen, der demnächst das 65. Lebensjahr vollendet, ist mit der Prinzessin Marianne zu Hohenlohe-Schillingsfürst, einer Enkelin des ehemaligen Reichskanzlers verheiratet. Drei Söhne und eine Tochter entstammen der Ehe. Ein Sohn, Prinz Moritz, fiel 1944 in Rumänien, während Erbprinz Carl Friedrich noch heute an schweren Kriegsverwundungen leidet. Auch sonst ging das allgemeine Schicksal nicht am fürstlichen Hause vorüber. Die Familien von drei der vier Schwestern des Fürsten wurden unter Verlust ihres Besitzes aus dem Sudetenland ausgewiesen. Eine Schwester wurde bei einem Bombenangriff auf Wien unter den Trümmern begraben.

Fürst Eugen ist führend in verschiedenen Wirtschaftszweigen tätig. Er gehört auch zu den Großgrundbesitzern, die bereits 1946 positive und praktische Angebote für eine vernünftige Bodenreform machten. Über 1000 Tagwerk Grund sind schon heute von ihm abgetreten worden. Auch sonst ist Fürst Eugen im öffentlichen und politischen Leben eine markante Erscheinung, die man in München, aber auch in Frankfurt oder Bonn nicht übersieht.

Schloß und Besitz

Das heutige Schloß dient erst seit dem Dreißigjährigen Krieg als Wohnsitz, während zuvor auf dem Wallersteiner Felsen eine mächtige Burgresidenz stand, die 1648 zerstört wurde, und bereits im Jahre 916 erstmalig genannt wird. Der heutige Zustand des Schlosses geht auf die Fürstin Wilhelmine, geborene Herzogin von Württemberg zurück, die Anfang des 19. Jahrhunderts mehrere alte Bauten zu einem Gesamtbau vereinigen ließ. Die architektonische Perle des fürstlichen Besitzes am Ort ist die unter den Grafen Johann Friedrich und Philipp Carl erbaute, 1751 vom Baumeister Trientl aus Wien vollendete Reitschule. Die schon erwähnte Fürstin Wilhelmine kaufte auch das sogenannte Schlößchen als Witwensitz an, in dem heute die Fürstinwitwe Julie, geborene Prinzessin Montenuovo, lebt und als Tochter des unter Kaiser Franz Josef so bekannten Fürsten ein Stück alter Wiener Kultur nach Wallerstein brachte.

In den Resten der alten Burg am Felsen befindet sich heute die zentrale Domänen- und Hofverwaltung, das bedeutsame Archiv und die Brauerei. Die starken Familienbande des in Prag als Sohn einer geborenen Gräfin Czernin geborenen Fürsten Eugen bringen es wohl mit sich, daß er neben einer ausgesprochenen Liebe zu seiner bayerischen Heimat ein besonderes Herz gerade für die sudetendeutschen Ausgewiesenen hat, was in deren starkem Anteil auch bereits in gehobenen Stellen der fürstlichen Verwaltung zum Ausdruck kommt. Bereits im ersten Zuge der Ausweisungen fanden etwa tausend Flüchtlinge Aufnahme in den verschiedenen zum fürstlichen Bereich gehörigen Gebäuden. Die bereits seit 1632 urkundlich bekannte fürstliche Brauerei hat sich im weiten Umkreis von Wallerstein einen geschätzten Namen gemacht. Endlich ist das fürstliche Archiv nicht nur eine oft unerläßliche Auskunftsquelle, sondern zieht immer wieder Wissenschaftler zu den interessantesten Forschungen herbei, finden sich doch Urkunden von Karl dem Großen und anderen historischen Persönlichkeiten in reichem Maße in seinen unendlichen Regalen.

Erstellt von Barbara Kratky